Komödie in drei Akten und einem Epilog
Endlich: Ödön von Horváths wunderbare, viel zu selten gespielte, schaurig-schöne Kriminal-Komödie ist nach mehr als einem Vierteljahrhundert in einer neuen Inszenierung auf einer großen Wiener Bühne zu sehen. Regie führt die für Ihre vielschichtigen Porträts von weiblichen Rollen bekannte Anna Bergmann.
Eine bizarre Stimmung herrschte, das Gefühl von Fieber, von Krise, Katastrophe und noch mehr Krise, wie ein Sommergewitter, dicht am Horizont. Dennoch schienen alle in nervöser Hochstimmung, als wären sie selbst Entwurzelte, Bodenlose, Flüchtende – aber das auf einem feisten Kreuzfahrtschiff, und sie alle steuerten lauthals schreiend, lauthals lachend auf den Untergang zu: Wo sich (endlich) die schwere Erregung lustvoll entladen würde! Voila! Fin de siècle, fin de monde! Und genau in dieser der Apokalypse entgegenfiebernden Zeit tauchte sie auf, verzauberte die sich ekstatisch gruselnden Menschen mit ihrem Lächeln, ihrer Sanftmut, und dem morbiden Umstand, dass sie eine Wasserleiche war … Paris, 1900, ihr großer Auftritt: die Unbekannte aus der Seine.
Oder genauer gesagt: die Maske dieser, an der Donau würde man sagen, „schönen Leich“. Denn die Legende will es, dass eine junge Frau eines Morgens tot aus der Seine geborgen und in eines der öffentlichen Leichenhäuser verbracht wurde; wo man sie zwar nicht identifizieren konnte, aber ein junger Bildhauer dem überraschend mysteriösen, engelsgleichen Antlitz verfiel und er es einfing in einer Maske aus feinem Porzellan. Und die Maske trat einen Siegeszug ins bürgerliche Europa an, ein jeder wollte, begehrte sie, und sie wurde zum beliebten Deko-Objekt – in Schlafzimmern über Ehebetten.
Es hat schon etwas Komisches, sich eine Wasserleiche romantisch übers Bett zu hängen, es hat auch etwas unheimliches an sich, seufzend unter einem Bildnis zu liegen, dem man den völlig absurden Ehrentitel „Mona Lisa des Selbstmordes“ verlieh – ganz zu schweigend davon, dass Wasserleichen, bei aller Liebe zu den in Lilien gebetteten Ophelien der Dekadenz-Malerei, gemeinhin nicht zum entspannten Lächeln neigen. Aber genau das schien den Meister des Unheimlichen und Komischen fasziniert zu haben, den Experten für Jahrmarkt und Wiener Nächte mitten im Weltuntergang; jenen Dichter, der behauptete seine Stücke seien überhaupt nur komisch, weil sie unheimlich seien, und der sich zweimal mit dieser Totenmaske beschäftigte: Ödon von Horváth, zum ersten Mal 1934 mit Die Unbekannte aus der Seine.
Ein Mystery-Thriller mit einem Touch von David Lynch, beinahe, das in einer düsteren Gasse spielt „in einer großen Stadt, an einem großen Fluss“, wo wie auf einem barocken Schauerbild Uhren und Blumen auf die Straße quellen – wo ein paar hoffnungslose Versager einen Einbruch planen, der – weil alles bei Horváth allen misslingt, das Leben ebenso wie der Tod – natürlich in einer Katastrophe endet … und wo plötzlich eine Unbekannte auftaucht. Eine Frau, von der man nichts weiß, nichts erfährt, und die sich radikal und schrankenlos an einen der Einbrecher bindet: ausgerechnet einen Don Juan von der traurigen Gestalt – und dies tut sie mit einer überdimensionierten Leidenschaft, deren Gründe ebenso rätselhaft bleiben wie sie selbst.
Über ihr Schicksal schweigt sich der Autor boshaft-lakonisch aus, sie verschwindet so jäh wie sie erschien, nur dann um in einer ferner nicht allzu fernen Zukunft spielenden Epilog zurückzukehren: als begehrte Totenmaske in einer Buchhandlung, die ihr Geschäft betreibt in eben jenem Haus, wo vor Jahren ein Mord an einem Uhrmacher begangen wurde …
Lust am Untergang, Freude am Horror, Gier nach fatalen Sensationen – wir kennen sie heute in erschreckender Ähnlichkeit wie die Leute um 1900. Krisen, Verschwörungen, Katastrophen, Kriege, Klima, mit leuchtender Hysterie und totaler Dringlichkeit dringt es von allen Seiten aus den Medien auf uns ein – Parteien radikalisieren sich, das Internet sowieso, Prepper und Milliardäre rüsten zum nuklearen Winter, Zombies und Aliens erfreuen sich bester Beliebtheit, dazwischen verausgaben sich Millennials und Super-Ager auf Cruising-Parties, beim Power Yoga, auf Mondreisen, als gäbe es kein Morgen (wäre die Sonne verschwunden, wir würde es eh erst nach sieben Tagen merken…).
Und da ist sie wieder, die lächelnde Totenmaske! Anna Bergmann, die für ihren glamourösen Hintersinn gefeierte Regisseurin, bringt sie in Volkstheater auf die Bühne, als eine eigenwillige Erscheinung, einen Engel, Sphinx, Nixe, eine Rusalka – lässt sie steigen aus dem Strom der Zeit: als multiversalen Minority Report Murmeltiertag! Und gibt der geheimnisvollen Toten aus dem Fluss, als dahinfließenden Bewusstseinsstrom, die Worte der großen Dichterin der Frauen, Kinder und unzerstörbar Zerbrechlichen, jener Dichterin, die sich nach einem Fluss benannte: Christine Lavant.
Was ist damals geschehen, was wird geschehen, wie sehr verweben sich Zukunft und Vergangenheit in dem absurden Theater unserer Zeit: da so vieles möglich ist, so vieles denkbar, so viele Variationen und Varianten unserer Entscheidungen und Wirklichkeiten. Wie wird eine Gesellschaft, die sich lustvoll in die Angst hineinsteigert, und die doch nur Sehnsucht hat, nach „geordneten Verhältnissen“ in einer Welt voller Kipppunkte, wie werden wir reagieren auf ein völlig fremdartiges Wesen: auf eine radikale Frau, eine radikale Liebende, eine große Unbekannte in der Gleichung unserer Existenz?
Wird sie sich umbringen, für uns, werfen in den Fluss, aus dem ihr Mythos wird? Oder haben wir sie geopfert, als den Sündenbock unserer Obsessionen: nicht alle gegen alle, sondern alle gegen die eine, die wir erst verfemen und dann verehren, erst ermorden und dann uns an die Wand hängen – weil etwas Blutiges ist in den Ritualen, mit denen wir unsere Gesellschaft stabil halten?
Diese Unbekannte – ist sie uns nicht allen doch sehr vertraut?